Wahrscheinlichkeitsrechnung mit Beutelschneider

Beutelschneider ist ein freies Rollenspielsystem, das ohne Würfel und Charakterbogen auskommt. Zufallselemente (Proben bei Herausforderungen) und Charakterwerte werden durch 20 verschiedenfarbige Murmeln in einem blickdichten Beutel symbolisiert. Diese Einfachheit und Portabilität fand ich bereits beim ersten durchlesen interessant. Seit einiger Zeit – einem ganzen Jahr um genau zu sein – hatte mich gereizt dieses System einmal zu durchleuchten. Nun möchte ich mich von der mathematischen Seite aus diesen Regel einmal annähern und ein wenig Wahrscheinlichkeitsrechnung bemühen.

Das Beutelschneider System ist von Johann Daniel Weyer (d6ideas) und aktuell in der dritten Regeledition verfügbar. Auf die Regeln gehe ich in diesem Beitrag nur in soweit ein, wie sie für das Verständnis der Berechnung erforderlich sind. Ansonsten kann und möchte ich auf das sehr überschaubare Regelwerk verweisen.

Für Beutelschneider befinden sich konstant 20 Murmeln in einem Beutel. Bei der Charaktererschaffung sind dies 5 weiße (unbestimmte) Murmeln sowie 15 Murmeln in unterschiedlicher Konstellation aus den Farben rot, grün und blau. Die Anzahl der Murmeln entsprechen der jeweiligen Fertigkeitsstufe, rot für (Kampf-)kraft, grün für Geschicklichkeit und blau für arkanes Wissen (Magie).

Zusätzlich sind für das Spiel noch schwarze Murmeln vorgesehen, die andere Murmeln ersetzen (die Gesamtzahl von 20 Stück im Beutel bleibt immer unverändert) und im Gegensatz zu den neutralen weißen Murmeln, negative Auswirkungen nach sich ziehen.

Herausforderungen, Tod

Bei einer Probe im Rahmen einer Herausforderung werden blind und ohne zurücklegen Murmeln aus dem Beutel gezogen, deren Anzahl dem Schwierigkeitsgrad entspricht. Für sehr einfache Proben werden 5, für normale 3 und für sehr schwere Proben nur eine Murmel entnommen.

Eine erfolgreiche Probe liegt dann vor, wenn eine der entnommenen Murmeln der Farbe der entsprechenden Herausforderung entspricht. War also eine Geschicklichkeitsprobe gefordert, muss mindestens eine der gezogenen Murmeln grün sein.

Für den Tod gilt gleiches. In diesem Fall muss bei der Probe mindestens eine schwarze Murmel gezogen werden.

Die Erfolgsaussichten P sehen dann wie folgt aus: M entspricht der Zahl der Murmeln der Zielfarbe im Beutel (0 bis 20) und S dem Schwierigkeitsgrad (1 = sehr schwer, 5 = sehr einfach).

P(M, S) = 1-\prod\limits_{i=0}^{S-1}\frac{20-i-M}{20-i}

[100% – das Produkt der Wahrscheinlichkeit eines Fehlgriffs bei allen Versuchen]

oder alternativ in der beliebteren Form zur Berechnung der kummulierten hypergeometrischen Verteilung, die man bereits von Urnenexperimenten her kennen könnte:

P(M, S) = \sum\limits_{i=0}^{S}\frac{\binom{M}{i}\binom{20-M}{S-i}}{\binom{20}{S}}

[Die Wahrscheinlichkeit 1, 2, 3… Kugeln der gewünschten Farbe bei S Versuchen zu ziehen.]

mit dem Binominalkoeffizienten \binom{n}{k} = \frac{n!}{k!(n-k)!}

In einer Tabelle dargestellt sind die Werte etwas handlicher:

Fertigkeits-
wert
Schwierigkeitsgrad
sehr schwer (1) schwer (2) gewöhnlich (3) einfach (4) sehr einfach (5)
0 0% 0% 0% 0% 0%
1 5,0% 10,0% 15,0% 20,0% 25,0%
2 10,0% 19,5% 28,4% 36,8% 44,7%
3 15,0% 28,4% 40,4% 50,9% 60,1%
4 20,0% 36,8% 50,9% 62,4% 71,8%
5 25,0% 44,7% 60,1% 71,8% 80,6%
6 30,0% 52,1% 68,1% 79,3% 87,1%
7 35,0% 58,9% 74,9% 85,2% 91,7%
8 40,0% 65,3% 80,7% 89,8% 94,9%
9 45,0% 71,1% 85,5% 93,2% 97,0%
10 50,0% 76,3% 89,5% 95,7% 98,4%
11 55,0% 81,1% 92,6% 97,4% 99,2%
12 60,0% 85,3% 95,1% 98,6% 99,6%
13 65,0% 88,9% 96,9% 99,3% 99,9%
14 70,0% 92,1% 98,2% 99,7% 100,0%
15 75,0% 94,7% 99,1% 99,9% 100,0%
16 80,0% 96,8% 99,6% 100,0% 100%
17 85,0% 98,4% 99,9% 100% 100%
18 90,0% 99,5% 100% 100% 100%
19 95,0% 100% 100% 100% 100%
20 100% 100% 100% 100% 100%

Die Kombinationen, bei denen ein Erfolg wahrscheinlicher ist, als ein Scheitern (abgesehen von den sicheren Fällen mit 100%), sind fett hervorgehoben. Fehlende Nachkommastellen weisen auf sichere/garantierte Werte hin. So ist bei 20 roten Murmeln im Beutel die Wahrscheinlichkeit eine rote Murmel zu ziehen unverrückbar 100%.

Es wird also deutlich, dass bei gewöhnlichen Proben bereits mit einem Fertigkeitswert von 4 eine 50:50 Chance auf einen Erfolg besteht. Bereits eine Murmel (ein Fertigkeitspunkt) mehr hebt die Chance schon auf 60% an.

Die Entwicklung ist dabei (außer für sehr schweren Proben) nicht linear. Das Steigern niedriger Werte lohnt sich also überproportional im Vergleich zu bereits recht hohen Fertigkeitswerten.

Erfolgswahrscheinlichkeit bei unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen und Fertigkeitswerten bei Beutelschneider
Erfolgswahrscheinlichkeit bei unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen und Fertigkeitswerten bei Beutelschneider

Auseinandersetzungen, Heilung

Für Auseinandersetzungen, z.B. in einem Kampf, ist nicht nur der einfache Erfolg, also das Ziehen mindestens einer Murmel der richtigen Farbe relevant, sondern nun auch die absolute Anzahl der gezogenen Murmeln in der richtigen Farbe. Siegreich geht in diesem Fall derjenige aus, der mehr Murmeln der relevanten Farbe aus seinem Beutel ziehen konnte. Je größer dabei die Differenz ist, desto bedeutender war der Erfolg.

Für diesen Fall lohnt sich nun ein Blick auf den Erwartungswert, also dem Wert, der angibt, wie viele Murmeln rein rechnerisch bei der Kombination Schwierigkeitsgrad und Murmelanzahl zu erwarten wäre.

Der Erwartungswert E berechnet sich dann etwas aufwändiger wie folgt: M entspricht wieder der Zahl der Murmeln der Zielfarbe im Beutel (0 bis 20) und S auch hier dem Schwierigkeitsgrad (1 = sehr schwer, 5 = sehr einfach).

E(M, S) = \sum\limits_{j=1}^{S}j\frac{\binom{M}{j}\binom{20-M}{S-j}}{\binom{20}{S}}

[Summe der Wahrscheinlichkeiten j Kugeln zu ziehen multipliziert mit der Zahl der Kugeln j]

Auch hier ist eine Tabelle vermutlich aussagekräftiger:

Fertigkeits-
wert
Schwierigkeitsgrad
sehr schwer (1) schwer (2) gewöhnlich (3) einfach (4) sehr einfach (5)
0 0 0 0 0 0
1 0,05 0 0 0 0
2 0,10 0,20 0 0 0
3 0,15 0,30 0,45 0 0
4 0,20 0,40 0,60 0,80 0
5 0,25 0,50 0,75 1,00 1,25
6 0,30 0,60 0,90 1,20 1,50
7 0,35 0,70 1,05 1,40 1,75
8 0,40 0,80 1,20 1,60 2,00
9 0,45 0,90 1,35 1,80 2,25
10 0,50 1,00 1,50 2,00 2,50
11 0,55 1,10 1,65 2,20 2,75
12 0,60 1,20 1,80 2,40 3,00
13 0,65 1,30 1,95 2,60 3,25
14 0,70 1,40 2,10 2,80 3,50
15 0,75 1,50 2,25 3,00 3,75
16 0,80 1,60 2,40 3,20 4,00
17 0,85 1,70 2,55 3,40 4,25
18 0,90 1,80 2,70 3,60 4,50
19 0,95 1,90 2,85 3,80 4,75
20 1 2 3 4 5
Erwartungswerte bei unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen und Fertigkeitswerten bei Beutelschneider
Erwartungswerte bei unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen und Fertigkeitswerten bei Beutelschneider

Zu lesen ist die Tabelle dabei wie folgt: Bei einem Fertigkeitswert 10 und einer Schwierigkeit von 4 (einfach), also vier zu ziehende Kugeln, ist (statistisch) davon auszugehen, dass 2 dieser Kugeln der gewünschten Farbe entsprechen. Ein Gegner mit einem Fertigkeitswert von 14, allerdings einer erschwerten Probe (schwierig) hat dabei die gleichen Erfolgsaussichten, wie ein Spielercharakter mit dem Fertigkeitswert 7 und einer erleichterten Probe (einfach). Beide haben einen Erwartungswert von 1,4, sollten also davon ausgehen können, dass sie mindestens einen Erfolg mitbringen.

Auch hier sind fehlende Nachkommastellen wieder Indiz für garantierte Ergebnisse. Wenn nur eine grüne Murmel im Beutel ist, können nicht zwei grüne Murmeln gezogen werden, etc.

Die Grafik für die Entwicklung des Erwartungswerts ist weniger spektakulär, bzw. verdeutlicht den linearen Anstieg.

Für die Heilung kommt die gleiche Formel, bzw. Tabelle zum Tragen. Je nach Erfolgsaussichten der Heilung (hier: Schwierigkeitsgrad) werden Murmeln aus dem Beutel gezogen. Alle dabei gezogenen schwarzen Murmeln (hier: Fertigkeitswert) können durch andersfarbige ausgetauscht werden. Bei fünf schwarzen Murmeln im Beutel und einer guten Heilung (Stufe 4), wird der Spieler vermutlich eine schwarze Murmel ziehen und austauschen können.

Ohnmacht, Patzer

Wird ein Charakter verwundet oder verletzt, so muss er entsprechend des Schweregrades seiner Verletzung zufällig gezogene Kugeln (1 bis 5) aus dem Beutel entfernen und durch schwarze Kugeln ersetzen. Zieht er bei einer späteren Probe ausschließlich schwarze Kugeln, so ist er handlungsunfähig. Augenscheinlich nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Ohnmacht mit der Zahl der schwarzen Kugeln im Beutel zu. Die Formel zur Ermittlung der genauen Wahrscheinlichkeit ist wiederum die zur Berechnung der hypergeometrischen Verteilung, jedoch nun nicht kummulativ:

P(M, S) = \frac{\binom{M}{i}\binom{20-M}{S-i}}{\binom{20}{S}}

mit M als der Anzahl der schwarzen Kugeln im Beutel (0 bis 20) und wiederum S für den Wert für des Schwierigkeitsgrads (1 bis 5).

Für die Wahrscheinlichkeit eines Patzers gilt entsprechendes, nur werden hierfür die weißen Murmeln gezählt.

In absoluten Werten bedeutet dies nun:

schwarze, bzw. weiße Kugeln Schwierigkeitsgrad
sehr schwer (1) schwer (2) gewöhnlich (3) einfach (4) sehr einfach (5)
0 0% 0% 0% 0% 0%
1 5,0% 0% 0% 0% 0%
2 10,0% 0,5% 0,0% 0% 0%
3 15,0% 1,6% 0,1% 0% 0%
4 20,0% 3,2% 0,4% 0,0% 0%
5 25,0% 5,3% 0,9% 0,1% 0,0%
6 30,0% 7,9% 1,8% 0,3% 0,0%
7 35,0% 11,1% 3,1% 0,7% 0,1%
8 40,0% 14,7% 4,9% 1,4% 0,4%
9 45,0% 18,9% 7,4% 2,6% 0,8%
10 50,0% 23,7% 10,5% 4,3% 1,6%
11 55,0% 28,9% 14,5% 6,8% 3,0%
12 60,0% 34,7% 19,3% 10,2% 5,1%
13 65,0% 41,1% 25,1% 14,8% 8,3%
14 70,0% 47,9% 31,9% 20,7% 12,9%
15 75,0% 55,3% 39,9% 28,2% 19,4%
16 80,0% 63,2% 49,1% 37,6% 28,2%
17 85,0% 71,6% 59,6% 49,1% 39,9%
18 90,0% 80,5% 71,6% 63,2% 55,3%
19 95,0% 90,0% 85,0% 80,0% 75,0%
20 100% 100% 100% 100% 100%

Mit Fettschrift wurden hier diejenigen Ergebnisfelder hervorgehoben, bei denen die Erfolgsaussichten gering sind, also ein Patzer oder eine Verwundung wahrscheinlich.

Bei einer gewöhnlichen Probe ist man mit bis zu 10 schwarzen Murmeln im Bestand noch durchaus sicher vor der Ohnmacht (<10%), allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit für einen Patzer oder eine Ohnmacht mit jeder zusätzlichen weißen, bzw. schwarzen Kugel überproportional an. Ab 18 weißen, bzw. schwarzen Murmeln ist ein Patzer, bzw. eine Ohnmacht schon fast sicher, allerdings ist der Charakter dann auch schon ein allen anderen Proben nahezu handlungsunfähig.

Wahrscheinlichkeit für Ohnmacht oder Patzer bei Beutelschneider
Wahrscheinlichkeit für Ohnmacht oder Patzer bei Beutelschneider

Die positive Nachricht ist allerdings, dass die Wahrscheinlichkeit für weitere schwarze Kugeln durch eine Verletzung mit jeder schwarzen Kugel im Bestand abnimmt. Hierzu kann die Formel, bzw. Tabelle aus dem Abschnitt Auseinandersetzungen herangezogen werden. Sie gibt an, mit wie vielen schwarzen Kugeln bei einer Verletzung aus dem Beutel zu rechnen ist. Die Differenz zwischen Erwartungswert und Schwierigkeitsgrad gibt dann die zu erwartende Anzahl neuer (zusätzlicher) schwarzer Kugeln an. Sind bereits 5 schwarze Kugeln im Beutel und eine Verwundung mittleren Grades (3) ist zu verzeichnen, so wird man voraussichtlich (Erwartungswert) 0,75 schwarze Murmeln ziehen. Daraus resultierend kommen 3 – 0,75 = 2,25 neue schwarze Kugeln hinzu. Hat man bereits 10 schwarze Murmeln im Bestand, kommen bei einer Verletzung gleichen Grades nur noch 1,5 neue schwarze Kugeln hinzu.

Hinweis: Die Patzer Regeln sind eine Erweiterung, die im Regelwerk der dritten Edition noch nicht enthalten sind.

Fazit

Beutelschneider ist nach wie vor ein spannender Ansatz, äußerst trivial, einleuchtend und einfach zu handhaben. Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeiten steht es keinem Würfelspiel nach, vor allem die nichtlinearen Steigerungen machen es dabei reizvoll. Je weiter sich ein Charakter in einer Fertigkeit steigert, desto geringer werden die Verbesserungen. Dies kombiniert sich mit einer Steigerungsregel, bei der die Chance auf eine Steigerung zudem noch schwieriger wird, je höher der Fertigkeitswert bereits liegt. Ob und nach wie vielen Spielrunden ein Spieler theoretisch seinen Charakter maximal hochgelevelt hat, rechne ich ein anderes mal aus…

Für einen Einsteiger, der seine Fertigkeitswerte bei ca. 5 gewählt hat, liegen die Erfolgschancen (bei gewöhnlichen Proben) mit 60% zu seinen Gunsten. Der Spieler sollte nicht weniger als drei Kugeln für eine Fertigkeit setzen um nicht erhebliche Nachteile in Kauf zu nehmen.

Die Tatsache, dass man die Zahl der Murmeln im Beutel des Gegners nicht kennt, hat einen weiteren Reiz. Seine eigenen Erfolgsaussichten kann man gut ermitteln. Um tatsächlich mehr als einen Erfolg aus dem Beutel zu ziehen, muss man allerdings schon eine nicht unerhebliche Anzahl passender Murmeln (> 50%) im Beutel haben.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Klaus

    “Beutelschneider” hat mich ob seiner Schlichtheit schon lange fasziniert, aber die Mühe einer stochastischen Auswertung hätte ich mir nie gemacht. Vielen Dank dafür!

Schreibe einen Kommentar

Nutze dieses Kommentarfeld um deine Meinung oder Ergänzung zu diesem Beitrag kundzutun. Verhalte dich bitte respektvoll und höflich! Kommentare werden vor der Veröffentlichung in der Regel moderiert und bei Verstößen gegen geltendes Recht, die guten Sitten, fehlendem Bezug oder missbräuchlicher Verwendung nicht freigegeben oder gelöscht.
Über die Angabe deines Namens, deiner E-Mail Adresse und deiner Webseite freuen wir uns, doch diese Felder sind optional. Deine E-Mail Adresse wird dabei zu keinem Zeitpunkt veröffentlicht.

Um mit dem Betreiber dieser Seite nicht-öffentlich in Kontakt zu treten, nutze die Möglichkeiten im Impressum.